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Matthias Freudenberg

5-3-1999

GES(S)NER, Konrad, Arzt, Naturforscher, Polyhistor und Theologe, * 16.(26.?)3. 1516 in Zürich, † 13.12. 1565 in Zürich. - G.s Vater Urs war Kürschner in Solothurn, seit 1511 Bürger in Zürich und fiel am 24.10.1531 in dem Zweiten Kappeler Krieg; seine Mutter Anna Barbara starb 1564. Mit Barbara Singysen verheiratete sich G. 1535; ihre Ehe blieb kinderlos. Aufgewachsen seit 1521 in der Obhut seines Großonkels und Kaplans Johannes Frick, der ihn in die Deutsche Schule schickte, wurde G. durch verschiedene Gönner, unter ihnen Ulrich Zwingli, der ihn 1531 unter die Stipendiaten aufnahm, in seiner Ausbildung unterstützt.

Er trat 1524 in die Lateinschule am Zürcher Großmünster ein, war 1526 Tischgenosse bei seinem Lehrer Oswald Myconius, wurde 1529 in die Großmünsterschule aufgenommen und lebte in der Hausgemeinschaft seines Lehrers Johann Jakob Ammann. Von Myconius empfohlen, kam G. 1532 als Famulus zu Wolfgang Capito nach Straßburg, wo er Alte Sprachen und Theologie studierte. 1533 kehrte er nach Zürich zurück und faßte, von Ammann ermuntert, den Plan, Medizin zu studieren. Mit einem Reisestipendium ausgestattet nahm er das Studium der Medizin und Naturkunde in Bourges und 1534 in Paris auf, wo er durch vielfältige Studien besonders der antiken Ärzte und naturwissenschaftlicher Schriften den Grund für eine universale Bildung legte

Wegen der einsetzenden Verfolgung der Protestanten verließ er Ende 1534 Paris, gelangte nach Straßburg zu Martin Bucer und wurde Anfang 1535 von den Vorstehern der Lateinschule nach Zürich zurückgerufen. Begleitet durch weitere medizinische Studien, arbeitete er dort als Elementarlehrer, bis er Ende 1536 erneut mit einem durch Heinrich Bullinger ermöglichten Stipendium nach Basel zum Medizinstudium entsandt wurde. Hier entstand 1537 sein »Lexicon Graecolatinum«. Vermutlich durch Vermittlung von Myconius wurde G. im September 1537 als Professor für Griechisch an die neu errichtete Akademie in Lausanne berufen, an der er drei Jahre verbrachte, die er zudem zu botanischen Studien, Exkursionen in die Savoyer Alpen und zur Abfassung kleinerer medizinischer, botanischer und philosophischer Schriften nutzte. Anläßlich eines Besuchs in Zürich Mitte 1540 forderte ihn der Stadtarzt Christoph Clauser zur Wiederaufnahme des Medizinstudiums auf, was er im Oktober 1540 in Montpellier mit der Ausbildung in Anatomie in die Tat umsetzte.

Im Februar 1541 erwarb er sodann nach kurzer Vorbereitung in Basel den Titel des Dr. med. Als praktischer Arzt ließ er sich nun endgültig in Zürich nieder, wo er neben ärztlicher Praxis eine schlechtbezahlte Stelle zunächst als Lektor und 1546 als Professor der Physik, Naturphilosophie und Ethik am Karolinum annahm. Zwischen 1547 und 1551 entstanden zahlreiche Schriften zur Medizin, Theologie und Zoologie. 1552 wurde G. zum Unterstadtarzt, 1554 zum Stadtarzt und 1558 zum Chorherrn am Großmünster ernannt. Den kaiserlichen Wappenbrief - das Familienwappen enthält bezeichnenderweise das Fach Theologie darstellende Tier- und Gesteinssymbole - erhielt er am 21.5.1564. Während er 1564 den schwer an der Pest erkrankten Bullinger heilte, erschöpfte er - selbst oft kränklich, entkräftet und halbblind - sich im Kampf gegen die Epidemie und bei seiner unablässigen wissenschaftlichen Arbeit, so daß er selbst im Dezember 1565 an der Pest erkrankte und starb. Bullinger berichtet, daß G. bis zum letzten Atemzug in seinem Studierzimmer noch gearbeitet habe.

Betrachtet man G.s Lebenswerk, so begegnet in ihm einer der vielseitigsten und produktivsten Gelehrten der Schweiz, der sich in mehreren Wissenschaften zugleich profiliert hat. Anerkannt sind seine Leistungen als Kompilator, gründlicher Enzyklopädist, kultureller und geographischer Universalist, ausgewiesener Kenner der griechischen, lateinischen und hebräischen Sprache, Theologe, Orientalist, Sprachwissenschaftler, Naturforscher und Mediziner. Stets von materieller Not bedroht und auf Unterstützung angewiesen, entstanden aus seinem immensen Wissensdurst und Fleiß heraus zahlreiche wegweisende wissenschaftliche Werke. Dazu zählen seine philologischen und biblio graphischen Schriften, von denen exemplarisch zu nennen sind: Schrift »Mithridates, sive de differentiis linguarum ... observationes« (1555), die sich mit der vergleichenden Erforschung der alten und neuen Sprachen beschäftigt und noch heute als Pionierleistung der Linguistik gilt; die in zwei Teilen erschienene »Bibliotheca universalis« (1545 bzw. 1548/49), die mit enzyklopädischem Anspruch in alphabetischer Anordnung ca. 3000 Autoren griechischer, lateinischer und hebräischer

Werke vom Altertum bis in seine Zeit und deren nach Sachgruppen geordnete Titel auflistet. Der 1548/49 angefügte Pandektenband stellt die Kenntnisse der Zeit auf den verschiedenen Wissensgebieten zusammen. Eine »Appendix bibliothecae« schloß 1555 dieses monumentale Werk ab, mit dem G. die erste internationale Allgemeinbibliographie überhaupt zusammenstellte und das seinen Namen weithin als »Vater der Bibliographie« bekannt werden ließ. Weiter trug G. als Kenner der bestehenden Literatur, scharfer Beobachter und leidenschaftlicher Sammler durch eine Vielzahl von Werken zur medizinischen und naturkundlichen Forschung bei. Zu nennen sind die mit über 1000 Holzschnitten ausgestattete, lexikalisch angelegte »Historia animalium«, deren erste vier Bände mit ca. 4500 Seiten über die Säugetiere, Amphibien und Reptilien, Vögel und Wassertiere noch zu G.s Lebzeiten erschienen (1551-1558), während ein fünfter Band über die Schlangen und ein sechster Band über die Insekten postum 1587 bzw. 1634 veröffentlicht wurden.

G. suchte alle bestehenden Kenntnisse über die Tiere zu sammeln und durch die Forschungen der Gegenwart - G. berücksichtigt die Tiere Amerikas - sowie durch eigene Untersuchungen zu ergänzen und durch Textillustrationen anschaulich zu machen. Neben diesem für die neuzeitliche Zoologie einflußreichen Gesamtwerk wurde eine gekürzte, popularisierende deutsche Bearbeitung als »Thier-, Vogel-, Fisch- und Schlangenbuch« (1557-1589) in mehreren Auflagen gedruckt und verbreitet. Mehrere Werke widmen sich der Heilkunst und Pharmazie: das Corpus »De balneis« (1553), eine Sammlung von Bäderschriften von Hippokrates über die römische, alexandrinische, arabische und text = mittelalterliche bis in die gegenwärtige Zeit, wobei G. selbst die Heilquellen in Deutschland und in der Schweiz behandelt; die Beschreibung der Milchwirtschaft und Käseherstellung »Libellus de lacte, et operibus lactariis« (1541); der hauptsächlich die Destillationskunst und ihre Produkte darstellende Arzneischatz »Thesaurus Euonymi Philiatri de remediis secretis« (1552, Teil 2 postum 1569), der auf galenischer Grundlage von pharmazeutischem Interesse ist und die Entwicklung der Chemiatrie vorantrieb; schließlich ein gelehrtes Buch »De omni rerum fossilium genere, gemmis, lapidibus, metallis« (1565) über Fossilien, Steine und Kristalle.

Ein Teil der Werke G.s wurde postum von seinem Freund und Kollegen Caspar Wolf herausgegeben, andere blieben entweder überhaupt oder sehr lange ungedruckt. Dazu zählt die mit über 1500 Abbildungen ausgestattete »Historia plantarum« (Teilausgabe durch Casimir Christoph Schmiedel erst 1751-1771; vollständige Ausgabe 1972-1987 nach Auffindung von Manuskripten mit Pflanzenabbildungen 1929 in Erlangen). Diesem Werk hätte im Fall eines rechtzeitigen Drucks aufgrund seiner exakten Detailzeichnungen von einzelnen Pflanzenorganen und der erstmals nach morphologischen Gesichtspunkten vorgenommenen Systematisierung der Pflanzen - G. selbst entdeckte bei seinen Exkursionen über 200 Pflanzen neu - eine überragende Bedeutung zukommen können. Neben eigenständigen Arbeiten dieser Art trat G. ferner als produktiver Briefschreiber - er korrespondierte mit zahlreichen bedeutenden Persönlichkeiten des Humanismus und der Reformation -, als Übersetzer und als Herausgeber fremder, z.T. klassischer Werke hervor. G.s Bedeutung als versierter Theologe ist erst in neuerer Zeit wieder ins Bewußtsein getreten (s. Staedt ke, Conrad Gesner, 1966, 238-265; Leu, Conrad Gessner, 1990). In Zürich war er einer der profiliertesten Verfechter der durch Zwingli begründeten Reformation.

Aus einer tiefen Glaubensüberzeugung heraus beschäftigte er sich intensiv mit der theologischen Wissenschaft, wobei ein theologisches Opus nicht zuletzt wegen seines frühen Todes nur fragmentarisch vorliegt. Entfernt von pantheistischen Immanenzvorstellungen, leistete er einen Beitrag zur Integration der Naturwissenschaften in eine christianisierte Kultur und zum Bekenntnis der Schöpfermacht Gottes in der Natur bei gleichzeitiger Entdämonisierung der Natur. Er entwickelte eine Theologie, die den Menschen als integralen Bestandteil der Natur begreift und den Blick für die Gesamtschöpfung bewahrt, die Gott als den Weltenschöpfer und -erhalter ansieht. Christliches und naturwissenschaftliches Weltbild treten bei G. nicht auseinander, sondern werden von ihrer Kongruenz her bestimmt, so daß jeder Dämonenglaube bei ihm durch die nüchterne Entdeckung natürlicher Vorgänge und die Suche nach der Wahrheit vom Objekt her ad absurdum geführt wird (vgl. die Schrift »De raris et admirandis herbis« [1555]). G.s Parallelbeschäftigung mit der Natur und den Quellen des christlichen Glaubens - an erster Stelle der als zum christlichen Glauben als vollgenügsam beurteilten und in den Ursprachen studierten Bibel - ließen ihn ein spezifisches Zuordnungsmodell von Naturwissenschaften und Theologie entwickeln: Die Darstellung des christlichen Glaubens und damit die Theologie selbst als gleichsam der Königin der Wissenschaft habe unter Benutzung aller Hilfsmittel wie der Geschichtswissenschaft, Philologie, Naturwissenschaft, Philosophie und Medizin zu geschehen. Ferner trat G. als Herausgeber lateinischer und griechischer Kirchenväter sowie als deren Übersetzer und Kommentator hervor.

Darin kommt sein christlich-humanistisches Anliegen zum Ausdruck, Bildung als eine Wohltat Gottes zu verstehen. Seine größte theologische Leistung sind die »Partitiones theologicae« (1549), die zugleich das letzte Buch des Pandektenbandes der »Bibliotheca universalis« bilden, alle theologischen Disziplinen erfassen und als die einzige bibliographische systematisch-theologische Enzyklopädie der Reformation gelten. Ihrer Disposition entspricht in Teilen noch heute die Gliederung der theologischen Fächer (Bibelexegese, spekulative Theologie, praktische Theologie, polemische Theologie, historische Theologie). - G. gilt als einer der ausgewiesensten und am vielfältigsten begabten Universalgelehrten des 16. Jahrhunderts. Neben der Arbeit in der Studierstube gewann er seine Erkenntnisse durch die unmittelbare Beobachtung auf Reisen und Alpenwanderungen, in Bädern und botanischen Gärten. Gespräche mit naturkundlichen Fachleuten wie Gärtnern, Hirten, Fischern und Bergleuten trieben ihn in seinen Studien voran. Seine bahnbrechenden Leistungen als Botaniker und Zoologe sind später noch von Carl v. Linné und Georges Cuvier gewürdigt worden. Aber auch für die im 20. Jahrhundert wieder neu profilierte Frage nach der Kongruenz von Theologie bzw. christlichem Glauben und Naturwissenschaft, wie sie etwa von Karl Heim aufgeworfen wurde, sind die von G. gewiesenen Perspektiven von unschätzbarem Wert.